Interview mit Bernd Ratzel Gesellschafter und Inhaber der Goecom GmbH & Co. KG

(Das DBZ-Interview als PDF mit freundlicher Genehmigung vom DBZ-Magazin)

Seit mehr als 35 Jahren entwickelt die Goecom GmbH & Co. KG Software für Bäckereien und realisiert IT-Lösungen für die vielfältigen Bedürfnisse unterschiedlicher Betriebe. Nun hat die Goecom ihr Produktportfolio auf das gesamte Lebensmittelhandwerk ausgeweitet. Was vielleicht niemand weiß, der EDV-Spezialist setzt sich seit vielen Jahren für soziale Projekte ein. Förderungen ausgegrenzter Gruppen und tabuisierter, „vergessener“ gesellschaftlicher Themen liegen Goecom besonders am Herzen. Inhaber und Gesellschafter Bernd Ratzel setzt sich seit Jahrzehnten für Kinder aus suchtbelasteten Familen ein. Nicht ohne Grund, denn er selbst hat das Thema „Alkoholismus“ im engsten Familienumfeld erfahren. Um Kindern eine bessere und gesunde Zukunft zu eröffnen, engagiert er sich für Prävention und die Therapie von Kindern aus suchtbelasteten Familien. Eines seiner langjährigen Förderungsprojekte ist die Kindergruppe „Regenbogen“.

 

  1. Warum liegen Ihnen Kinder aus suchtbelasteten Familien so am Herzen? Gibt es persönliche Hintergründe?

Die Förderung der Kindergruppe „Regenbogen“ ist das Master-Projekt der Goecom GmbH und meine persönliche Herzensangelegenheit. Ich selbst habe in meinem engsten familären Umfeld Alkoholismus erlebt und weiß, was eine Suchterkrankung für nahe Angehörige und insbesondere Kinder bedeutet. Viele ihrer Ängste und Nöte bleiben unausgesprochenen, weil Gesellschaft und Politik das Thema jahrzehntelang tabuisiert haben. Hilfe erhielten die Suchtkranken, nicht ihre Kinder.

 

  1. Was erleben Kinder aus suchtbelasteten Familien und warum wird Alkoholismus unterschätzt?

Kinder aus suchtbelasteten Familien leiden extrem unter der familiären Situation. Ihnen werden psychische Verletzungen durch die Drogen ihrer Eltern zugefügt, die sie selbst nicht nehmen. Oftmals sind Heranwachsende bereits mit 13 oder 14 Jahren alkoholabhängig; mit 16 werden sie mitunter straffällig. In diesem Alter werden nur geringe Mengen nach wenigen Wochen oder Monaten pathologisch. Menschen mit dieser Historie wieder in die Gesellschaft zu integrieren, ist nahezu unmöglich. Die Rückfallquote ist vergleichsweise hoch, weil Alkoholismus gesellschaftlich anerkannt und die Dunkelziffer sehr hoch ist. Der überwiegende Teil der Alkoholiker ist nicht der, der durch Pöbeleien negativ auffällt, sondern die Pegeltrinker, die täglich nur 1 bis 1,3 Promille erreichen. Nach außen sind es sozialverträgliche, charmante und joviale Menschen. Sie rutschen durch das gesellschaftliche Raster. Im innersten Kreis der Familie ist ihr Verhalten eine Katastrophe und der Alkoholismus bleibt immer ein Tabuthema. Jeder Mensch in Deutschland hat in seinem persönlichen Umfeld mindestens einen Alkoholiker, wissend oder unwissentlich. Überschreitet ein Pegeltrinker die magische Grenze von 1,5 Promille, unterlaufen ihm Fehler, erst dann fällt er auch in der Außenwirkung, in der Gesellschaft, auf. Kinder leiden in ihren Familien demzufolge oft unbemerkt. Das muss sich ändern.

 

  1. Wie war die gesellschaftliche Ausgangssituation und wie sind Sie auf die Kindergruppe „Regenbogen“ aufmerksam geworden?

In den frühen 2000er Jahren haben weder Gesellschaft noch Politik die Kinder aus suchtbelasteten Familien wahrgenommen. Erst zwischen 2005 und 2010 entdeckten die Institutionen, dass Alkoholoker auch eine Familie haben; denn bislang wurde nur „der Süchtige“ therapiert. Was viele Menschen nicht wissen: Zu jedem abhängigen Alkoliker gibt es immer auch einen Co-Abhängigen, der das Verhalten des Suchterkrankten toleriert.

Trinken ein oder beide Elternteile, entwickeln die Kinder automatisch ein Verhalten, was sich in vier diagnostizierbare, einfach nachzuweisende Kategorien klassifizieren lässt. Den Familienhelden, das „schwarze Schaf“, den Clown und das Mauerblümchen. Einige davon sind gesellschaftlich hoch angesehen, wie der Familienheld oder der Clown. Hingegen sind das „schwarze Schaf“ oder das Mauerblümchen sozial unerwünscht. Der Familienheld übernimmt zu früh zu viel Verantwortung. Der Clown ist hoch angesehen, weil er immer fröhlich und lustig ist. Das Mauerblümchen ist ein Mitläufer  – versteckt, angepasst und introvertiert will es nicht wahrgenommen werden. Das schwarze Schaf versteht sich von selbst, es ist immer der „Buhmann“. Nach diesen Parametern lässt sich jedes Alkolikerkind klar klassifizieren.

Nachdem diese Problematik Anfang der 2000er mehr in den Fokus der Gesellschaft, der Familen und Therapeuten rückte, war endlich der Grundstein für die Therapie von Kindern suchtkranker Eltern gelegt.

Durch einen guten Freund, der als Therapeut für Menschen mit Suchterkrankungen arbeitete, erfuhr ich mehr über die unterschätzten Probleme der „vergessenen“ Kinder und wie sehr sie durch den Alkoholkonsum und das Verhalten ihrer Eltern geschädigt werden. Sowohl familiär als auch gesellschaftlich waren sie vollkommen vernachlässigt, denn Hilfe wurde bis zu dem Zeitpunkt nur den suchterkrankten Menschen zuteil.

Über meinen Entschluss, den Kinder zu helfen, entstand der Kontakt zu Dr. Martina Rapp, die mir ihre Idee und ihr Konzept zur Gründung einer Therapiegruppe vorstellte. Denn bislang scheiterte der Versuch, eine Gruppe zu initiieren, aufgrund fehlender finanzieller Mittel. Ich war begeistert, sagte meine dauerhafte Unterstützung zu und begleite das Projekt bis zum heutigen Tage.

 

  1. Sie sponsern die Gruppe „Regenbogen“ mit einer monatlichen Pauschale. Für welche konkreten Belange verwendet Dr. Martina Rapp Ihre Spende?

Als sich die Gruppe noch im Aufbau befand, wurden unsere Spenden oftmals für die noch fehlende „Hardware“ zur Ausstattung der Gruppenräume eingesetzt. Die regelmäßige monatliche Unterstützung wird für diverse Investitionen eingesetzt, die im Ermessen von Martina Rapp liegen. Außer der Reihe anfallende Anschaffungen können jederzeit zusätzlich angefordert werden. Egal, was gerade benötigt wird, sei es die Aufnahme neuer Kinder in die Gruppe, ein Ausflug, ein kaputter Herd für gemeinsames Kochen oder neues Spielmaterial; wir sind für die Kinder da.

 

  1. Wie hat sich das Projekt „Regenbogen“ in den vergangenen Jahren weiterentwickelt und warum ist Prävention so wichtig?

Martina Rapp ist seit 2008 Vorreiterin in der Therapie von Kindern aus suchtbelastetem Elternhaus. Ihre „Basisidee“ hat sich bis heute weiterentwickelt und erfährt großen Zuspruch. Mittlerweile werden bei ihr circa 30 bis 40 Kindern therapiert. Sie sucht gemeinsam mit dem Kind nach Hilfen und Antworten. Sie gibt ihm eine „Stimme“ und die Kraft, seine Bedürfnisse zu äußern.

Konstante Förderung ist unerlässlich. Das zeigt ein erschütterndes Beispiel aus dem Therapiealltag von Frau Dr. Rapp: Ein Kind, das bereits seit drei Monaten jede Woche die Gruppe besucht hatte, zog zum ersten Mal seine Jacke aus und signalisierte damit, dass es angekommen sei. Ein sehr bewegender Moment, der mir vor Augen geführt hat, wie lange die „verletzten Seelen“ brauchen, um zu vertrauen, zu verstehen und sich zu öffnen.

 

  1. In welcher Ausgangssituation befinden sich die Kinder?

Die Auswirkungen von Alkoholismus beginnen für das ungeborene Kind bereits im Mutterleib. Deswegen ist es mir wichtig, gesunden Menschen eine Zukunft zu geben, um eine Erkrankung wie FASD zu verhindern. Unter diesem Krankheitsbild werden alle Formen von Schäden subsummiert, die durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft verursacht wurden. Kinder, die an FASD leiden, sind nicht in der Lage, Verantwortung für ihr Leben, ihre Kinder oder ihren Beruf zu übernehmen. Letzendlich hat der Alkoholkonsum einer Mutter weitreichende Auswirkungen auf alle folgenden Generationen, deren Leben und ihre Entwicklung. Ich möchte einem Kind die Chance geben, ohne Alkohol aufzuwachsen.

Sind Eltern suchtkrank, leiden ihre Kinder. Eine Kindheit im Schatten elterlicher Sucht ist gekennzeichnet von einer Atmosphäre ständiger Angst und Unsicherheit sowie einem Mangel an emotionaler Zuwendung und Geborgenheit. Häufig kommen Gewalt und Vernachlässigung hinzu. An den Folgen einer solchen Kindheit tragen die Kinder ihr Leben lang. Sucht ist eine Familienkrankheit und oftmals über Generationen hinweg immer wieder Quelle von Leid und Tod.

 

  1. Therapie als Ausweg: Was lernen die Kinder in der Therapie?

vl. Frau Dr. Rapp & Kollegin Frau Richter

Sucht und ihre Folgen sind für die Kinder von Suchtkranken kein unabänderliches Schicksal. Die Kinder haben gute Chancen, sich zu gesunden, reifen, lebenstüchtigen Erwachsenen zu entwickeln, wenn sie entsprechend unterstützt werden. In der Therapiegruppe lernen sie erstmals andere Kinder kennen, die das gleiche Problem haben. Sprechen über Gefühle, Nöte und Ängste. Sie lernen, sich zu öffnen, zu vertrauen, fühlen sich verstanden und können daraus Selbstvertrauen entwickeln. Es reicht nicht aus, den Suchtkranken zu therapieren, es sollte immer das Umfeld, die ganze Familie therapiert und begleitet werden.

 

  1. Gibt es weitere Institutionen, die Sie zum Thema „Suchterkrankung“ fördern?

Seit 2008 unterstützen wir den Verein NACOA. Er betreibt Öffentlichkeitsarbeit für die Kinder suchtkranker Eltern, veranstaltet Symposien und Workshops, deren Ausrichtung wir mitfinanziert haben. Über die Kindergruppe „Regenbogen“ hinaus fördern wir die Arbeit von NACOA bis zum heutigen Tag.

 

  1. Ist das Thema „Alkoholsucht“ in Gesellschaft und Politik immer noch ein unterschätztes Problem und was sollte sich ändern?

Ja, das Thema wird von der Gesellschaft immer noch gedeckelt. Die Kindergruppe „Regenbogen“ ist nicht nur meine Herzensangelegenheit, sondern ein Muster- und Vorzeigeprojekt. In unserer Gesellschaft steht die Therapie alkoholkranker Menschen weiterhin im Fokus, die Lebenssituation der Kinder aus diesen Familien, ihre daraus resultierenden Ängste und Nöte werden nach wie vor nicht berücksichtigt.

Wenn wir eine gesunde Gesellschaft wollen, dürfen wir uns nicht nur um suchtkranke Menschen kümmern, sondern müssen uns um die Nachfolger der Süchtigen sorgen, sie schützen und Präventition betreiben.

Die Kindergruppe „Regenbogen“ schafft mit ihrer therapeutischen Arbeit ein Fundament, um sie auf ein gesundes Leben vorzubereiten. Das sollten Gesellschaft und Politik gleichwohl auf nationaler Ebene tun. Die Therapie dieser Kinder ist eine Investition in die Zukunft.

 

  1. Was wünschen Sie sich für die Kinder? Wie sieht eine bessere Zukunft aus?

Die Therapie von suchtkranken Menschen ist wichtig und unerlässlich. Ich persönlich halte es für wichtiger, gezielt die Kinder dieser Menschen zu therapieren und zu fördern; das ist die nächste Generation. Wenn wir an diesem Punkt nicht eingreifen, dann produzieren wir aus der Generation der Alkoholiker eine nächste Generation von Alkoholikern. Damit sich der Prozess nicht wiederholt, müssen wir ihn in der Generation stoppen, in der wir noch eingreifen und etwas verändern können. Das funktioniert nur dann, wenn die Kinder noch keinen freien Zugriff auf Alkohol haben. Die Therapiegruppen sind eine Präventionsmaßnahme, die exorbitant für die nächsten 50 oder 60 Jahre wirkt. Die Therapie eines 10-jährigen Kindes hat eine ganz andere Wertigkeit als die eines 60-Jährigen. Wenn ich ein Kind therapiere und dadurch erreiche, das es bis ins hohe Alter nicht trinkt, dann habe ich einen Erfolg für das Kind und dessen Zukunft und die Allgemeinheit erreicht. mit freundlicher genehmigung von

 

 

INFO: “FASD”

Unter dem Begriff FASD (Fetal Alcohol Spectrum Disorder) oder auch Fetale Alkoholspektrum-Störungen werden alle Formen von Schäden an Kindern, die durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft verursacht wurden, zusammengefasst.

Kinder alkoholkranker Mensch leiden oft unter FASD. Menschen mit FASD haben häufig in allen Lebensphasen Schwierigkeiten , wobei die größten Probleme meist in der Bewältigung des Alltags liegen. Ursache dafür ist die Schädigung des Frontalhirns und die daraus resultierenden Störungen der Exekutivfunktionen. Ein selbstbestimmtes Leben in der Gesellschaft ist nur den wenigsten Jugendlichen und Erwachsenen mit FASD möglich.

Mütterlicher Alkoholkonsum während der Schwangerschaft ist eine häufige Ursache für angeborene Fehlbildungen, geistige Behinderungen, hirnorganische Beeinträchtigungen, Entwicklungsstörungen und extreme Verhaltensauffälligkeiten. Alle Formen dieser vorgeburtlichen Schädigungen werden unter dem Begriff FASD  zusammengefasst. FASD kann sich in seiner Ausprägung sehr unterschiedlich darstellen, was die Diagnostik oft erschwert.

Quelle: FASD Deutschland e.V.

 

 

INFO: “NACOA”

In Deutschland leben heute schätzungsweise 2,65 Millionen Kinder mit alkoholkranken Eltern unter einem Dach. Noch einmal 40.000 bis 60.000 Kinder haben Eltern, die von illegalen Suchtmitteln abhängig sind. Fast jedes sechste Kind kommt aus einer Suchtfamilie. Kinder suchtkranker Eltern (Children of Addicts = COAs) sind die größte bekannte Sucht-Risikogruppe. Ihr Risiko, als Erwachsene selbst suchtkrank zu werden, ist im Vergleich zu Kindern aus nichtsüchtigen Familien bis zu sechsfach erhöht.

Etwa ein Drittel dieser Kinder wird im Erwachsenenalter alkohol-, drogen- oder medikamentenabhängig.

Ein Drittel entwickelt psychische oder soziale Störungen (teilweise überlappend mit dem ersten Drittel).

Ein Drittel kommt mehr oder weniger unbeschadet davon.

Viele erwachsene Kinder aus suchtbelasteten Familien suchen sich wieder eine/n süchtige/n Lebenspartner/in, kämpfen mit psychosomatischen Störungen, nichtstofflichen Abhängigkeiten und tun sich allgemein schwer, ihren Platz im Leben zu finden.

Quelle: NACOA DEUTSCHLAND Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien e.V.